Kreatives Übersetzen und die Ignoranz
Vor einigen Jahren erhielt ich den Auftrag, eine Tourismusbroschüre für die Fremdenverkehrsverwaltung eines eher unauffälligen US-Bundesstaats ins Deutsche zu übersetzen. Es war eine reizvolle Aufgabe, die Sehenswürdigkeiten des Staates einem deutschen Publikum schmackhaft zu machen, und ich gab mir viel Mühe, die Broschüre sprachlich ansprechend zu gestalten. Einige Tage nach der Lieferung teilte mir die Agentur mit, die Endkundin sei unzufrieden mit der Übersetzung. Man habe eine automatische Übersetzung mit Google Translate angefertigt und festgestellt, dass meine Übersetzung „ganz andere Wörter“ enthalte.
Gemeinsam mit meiner Agentur, mit der ich schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitete, versuchte ich, der Dame den Unterschied zwischen Google Translate und einer echten Übersetzung klar zu machen und ihr zu vermitteln, dass Übersetzen ein kreativer Prozess ist, bei dem es gerade darum geht, das Original nicht wortwörtlich nachzuahmen, sondern den Sinn des Textes in der Ausdrucksweise der Zielsprache wiederzugeben usw. usw. Es nützte alles nichts, die Dame bestand auf einer wörtlichen Übersetzung. Ich war erschüttert. Natürlich habe ich der unbelehrbaren Kundin geliefert, was sie zu wollen glaubte - das, was sie wirklich brauchte, hatte sie ja abgelehnt.
Leider ist das kein Einzelfall, und er ist auch nicht auf die USA beschränkt. Selbst hierzulande begegnen einem immer wieder Menschen, selbst gebildete Menschen, die der Meinung sind, eine Übersetzung müsse wörtlich sein, um den Sinninhalt des Originals korrekt wiederzugeben. Dass jede Sprache ihre ureigenen Ausdrucksweisen hat, die von ihren Entsprechungen in anderen Sprachen grundverschieden sein können; dass der Satzbau selbst zwischen verwandten Sprachen wie Deutsch und Englisch oft komplett anders sein muss, um den gleichen Gedanken adäquat wiederzugeben; dass Zäsuren anders gesetzt werden müssen, dass die optimale Satzlänge, die zulässige grammatische Komplexität und vor allen Dingen die Idiomatik ganz unterschiedlich zu behandeln sind, leuchtet vielen Zeitgenossen nicht ein und hindert sie daran, eine gute Übersetzung von einer weniger guten zu unterscheiden.